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Berichte aus Ungarn
Spitzenkandidaten
Ungarn blickt einem eigentümlichen Wahlkampf entgegen. Der Sieg des oppositionellen Fidesz gilt als sicher. Ebenso die zweite Amtsperiode für Fidesz-Chef Viktor Orbán als Ministerpräsident. Bleiben eigentlich nur noch zwei Fragen offen: Wie hoch wird der Wahlsieg des Fidesz ausfallen, und welche parteipolitische Zusammensetzung werden die Oppositionsreihen im künftigen Parlament haben? Außer beim Fidesz wird die Rolle der Spitzenkandidaten lediglich darin bestehen, die Position ihrer Parteien zu verbessern. Die meisten Fragen wirft in diesem Zusammenhang die Person des Spitzenkandidaten bei den regierenden Sozialisten (MSZP) auf. Dies mag wohl damit zusammenhängen, dass die MSZP seit der Wende mehr als die Hälfte der Regierungschefs gestellt hat. Die Sozialisten haben im Frühjahr schon einmal einen Ministerpräsidenten auf den Schild gehoben. Der Auserwählte, Gordon Bajnai, erwies sich angesichts der positiven Reaktionen im In- und Ausland als gute Wahl. Indes muss die MSZP nun alles von vorne beginnen. Bajnai hat nämlich angekündigt, nach Ende der laufenden Legislaturperiode der Politik den Rücken zu kehren. Wollen die Sozialisten ihre Erneuerung in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen, wäre es sinnvoll, einen jungen und dynamischen, aber nicht ganz unerfahrenen Politiker als Spitzenkandidaten zu bestimmen. Neben Bajnai wäre für diese Aufgabe auch der Szegeder Bürgermeister László Botka prädestiniert gewesen. Botka winkte allerdings mit der Begründung ab, er wolle lieber weiterhin in seiner Stadt nach dem Rechten sehen. Obwohl Noch- EU-Kommissar László Kovács einst sechs Jahre lang MSZP-Chef und ebenso lange Außenminister war, ist in Anbetracht seiner Rückkehr auf die innenpolitische Bühne schwer vorstellbar, dass die Sozialisten mit ihm an der Spitze ihre Erneuerung propagieren wollen. Bleibt nach dem Ausschlussprinzip der polyglotte und pragmatische MSZP- Fraktionsvorsitzende Attila Mesterházy. Es ist wichtig, hier nochmals zu betonen: nach dem Ausschlussprinzip. Was Mesterházy betrifft, ist es ziemlich offenkundig, dass er ursprünglich nicht erste Wahl seiner Partei war. Obwohl er eine flexible politische Persönlichkeit mit eigenem Potenzial zu sein scheint, hat ihm die Durchschlagskraft bislang gefehlt. Aber gerade dies hätte die MSZP derzeit notwendig. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob die Sozialisten imstande sein werden so zu tun, als würden sie an den Erfolg von Mesterházy glauben. Demgegenüber wird das MDF in der Person von Ex-Finanzminister Lajos Bokros ein Schwergewicht als Spitzenkandidat ins Rennen schicken. Bokros hatte großen Anteil daran, dass das MDF neuerlich den Sprung über die Fünfprozenthürde schaffte. EU-Parlamentarier Bokros hat umfassende Vorstellungen darüber, wie die ungarische Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verändern wäre. Seine Ansichten vertritt er nicht selten provokativ und mit intellektueller Verve. Mit Bokros als Spitzenkandidat hat das MDF gute Aussichten, einen Teil des atomisierten liberalen Lagers sowie reformfreundliche sozialistische Wähler ins MDF- Boot zu holen. Im Hinblick sauf die rechtsradikale Partei Jobbik scheinen sowohl Parteichef Gábor Vona als auch die EU-Parlamentarien Krisztina Morvai dafür geeignet zu sein, das etablierte politische Establishment ins Kreuzfeuer der Kritik zu nehmen dies bedeutet aber noch nicht, dass ihnen die Wähler Reggierungskompetenz zusprechen werden. Was macht derweil Fidesz- Chef Viktor Orbán? Sein Ziel ist, eine »zentrale« Position innerhalb der Parteisystems einzunehmen, was nicht mit einer Zentrumsposition gleichzusetzen ist. Die zentrale Position bedeutet schlicht und einfach Regierungstauglichkeit: Will jemand auf das weitere Schicksal des Landes Einfluss nehmen, führt am Fidesz kein Weg vorbei. Darüber hinaus behauptet Orbán, dass die größten Konkurrenten für seine Partei, MSZP und Jobbik, radikal und mithin gefährlich seien. Laut dem Fidesz-Chef liegt der Radikalismus der Sozialisten in der neoliberalen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre. Den Radikalismus der Partei Jobbik wiederum ortet Orbán in der »politischen Dreistigkeit «, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufe. Für seine eigene Partei hat Orbán die Etiketten »stärkste Partei «, »Garantie für Veränderungen« und »ruhige Kraft« reserviert. Darauf müssen seine Gegner nun die Antwort finden.
WH

Ibolya Dávid baut um
Ende November löste die MDF-Parteiführung fünf Budapester Bezirksverbände der Partei auf und teilte das den Organisationen per Telefon mit. Begründung für die Aktion war, dass die Verbände dem gescheiterten MDF-Politiker Kornél Almássy nahe stünden. Almássy hatte im September 2008 versucht, in einer Kampfkandidatur gegen Ibolya Dávid den Parteivorsitz zu erlangen. Im Zuge einer bis heute andauernden undurchsichtigen Geheimdienstaffäre musste sich der hoffnungsvolle Jungpolitiker, der keinen Hehl daraus machte, das Demokratische Forum dem Fidesz annähern zu wollen, von seiner Kandidatur zurückziehen. In der Folge wurde er auch aus der Parlamentsfraktion und der Partei ausgeschlossen. Die umgehende Beschwerde des Budapester MDF-Chefs Zoltán Lévai zeigte immerhin, dass das Demokratische Forum doch noch mehr ist als die Privatveranstaltung der Parteivorsitzenden Ibolya Dávid. Lévai wies darauf hin, dass eine Auflösung von Bezirksverbänden im Sinne der Parteisatzung lediglich auf Vorschlag des Budapester Parteivorstandes erfolgen könne. Um weiteres Unheil abzuwenden, einigte man sich auf eine nichtssagende vierzeilige Mitteilung, in der die Neuformung der Bezirksverbände bekannt gegeben wird. Kein Zweifel, dass damit der vollständige Austausch des Personals gemeint ist. Auch auf Landesebene arbeitet Ibolya Dávid weiter daran, die Partei nach ihrem Gusto zu formen. Nachdem bereits angekündigt worden war, dass der derzeitige MDF-Europaparlamentarier und frühere sozialistische Finanzminister Lajos Bokros bei den Parlamentswahlen als Spitzenkandidat des Demokratischen Forums antreten wird, wurde Ende November der Publizist József Debreczeni als MDF-Kandidat vorgestellt. Debreczeni gilt als schillernde Figur der ungarischen Politszene: Im ersten frei gewählten Parlament MDF-Abgeordneter, war Debreczeni in den Jahren 1994–1996 Berater von Fidessz-Chef Viktor Orbán. Nach 2004 wurde der Autor fanatischer Anhänger von Ferenc Gyurcsány. Sein neuestes Buch, in dem er vor dem Ende der ungarischen Demokratie unter einem zukünftigen Ministerpräsidenten Orbán warnt, stellte Debreczeni Mitte November zusammen mit Ibolya Dávid und dem ehemaligen SZDSZ-Vorsitzenden und Innenminister Gábor Kuncze vor.
WH

Budgetgesetz
Der Haushalt 2010 ist durch. Am 30. November wurde das Haushaltsgesetz für das kommende Jahr mit 201 Ja-Stimmen – gegenüber 179 Nein-Stimmen – von den Fraktionen der Sozialisten und den Freien Demokraten verabschiedet. Bei den Sozialisten stimmte lediglich ein Abgeordneter gegen das Budget, bei SZDSZ waren es vier. Nach der Verabschiedung des Budgetgesetzes für 2010 zeigte sich auch der Regierungschef Gordon Bajnai erleichtert. Bajnai betonte, dass das Budgetdefizit im kommenden Jahr 3,8 % des Bruttoinlandproduktes (BIP) betragen werde, womit Ungarn eines der stabilsten Länder in Europa sei. Der Ministerpräsident dankte auch der Bevölkerung dafür, dass sie die neuerlichen Sparmaßnahmen der Regierung akzeptiert und verstanden habe. Bajnai sagte, dass der Haushalt des kommenden Jahres einen stabilen Forint, niedrige Zinsen und die Aufrechterhaltung bestehender Arbeitsplätze gewährleiste. Der Regierungschef wies auch darauf hin, dass das Budget 2010 berechenbar sei und viel größere Reserven habe als der diesjährige Haushalt. Für die Berechenbarkeit sorge die regelmäßige Aufsicht durch die EU, den Internationalen Währungsfonds (IWF), den Haushaltsrat (KT) und die Notenbank, erklärte Bajnai. Neben dem Defizitziel in Höhe 3,8 Prozent des BIP werden im Haushalt 2010 eine Jahresinflation in Höhe von 3,9 % und ein Rückgang des Bruttoinlandsproduktes in Höhe 0,6 % erwartet. Die größten Leidtragenden der Sparmaßnahmen im kommenden Jahr sind die öffentlichen Verkehrsbetriebe (MÁV und Volán) sowie die Kommunalverwaltungen. Während der öffentliche Verkehr 40 Milliarden Forint weniger Mittel bekommen als in diesem Jahr, werden den Kommunen nächstes Jahr 70 Milliarden Forint durch die Lappen gehen. Ungeachtet des Optimismus von Bajnai und seiner Regierung wurde das Budget 2010 mit viel Kritik bedacht. Der Rechnungshof etwa hielt der Regierung vor, dass sie in mehreren Punkten nicht gründlich genug nachgerechnet habe. Laut Rechnungshof ist es leicht möglich, dass die Einnahmen niedriger und die Ausgaben höher ausfallen werden als von der Regierung geplant. Auch der Haushaltsrat kritisierte die Regierung dafür, die Steuereinnahmen zu hoch veranschlagt zu haben. Schließlich richteten 29 Ökonomen, die der Oppositionspartei Fidesz nahe stehen, einen offenen Brief an die Regierung. Darin halten sie ihr unter anderem vor, das Budgetdefizit zu niedrig veranschlagt zu haben und den ungarischen Unternehmern nicht genügend unter die Arme zu greifen.
WH

Schwere Strafen
Zweite Instanz trifft Urteile im Olaszliszkaer Lynchmord-Fall

Am 13. November verkündete der Vorsitzende Richter des Berufungsgerichts in Debrecen die Urteile im Fall des Lynchmordes in Olaszliszka. Bei den meisten Fällen belief sich das Strafmaß auf die gleiche Höhe, wie im angefochtenen Urteil, in drei Fällen hingegen wurde ein höheres Strafmaß festgelegt. So erhielten drei Angeklagte eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, weitere drei bekamen Haftstrafen zwischen 15 und 17 Jahren. Zwei zur Tatzeit Minderjährige erhielten 10 Jahre Jugendstrafe, das höchstmögliche Strafmaß. Im Jahr 2006 hatten die Verurteilten den Lehrer Lajos Szögi vor den Augen seiner zwei Töchter zu Tode geprügelt, weil er ein Mädchen angefahren haben soll. Wie sich später herausstellte, hat das Mädchen bei dem Unfall nicht einmal Kratzer davongetragen.
WH

Zwei Reden, zwei Strategien

Nachdem der Vorsitzende des rechtskonservativen Fidesz, Viktor Orbán, am Nationalfeiertag eine Rede gehalten hatte, meldete sich Ex-Regierungschef Ferenc Gyurcsány bei den Feierlichkeiten aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der MSZP zu Wort. Auf den ersten Blick weisen die beiden Ansprachen sogar Ähnlichkeiten auf. Beide Politiker legten das Gewicht ihrer Reden auf das Motiv des Kampfes. Während Orbán den Kampf jedoch als Verteidigung definierte, umschrieb ihn Gyurcsány eher als Angriff. Orbán suggerierte, dass die Wahlen in Wirklichkeit bereits entschieden sind. Zugleich rief Orbán seine Zuhörerschaft aber auf, nach den Wahlen wach zu bleiben und vorsichtig zu sein. Die MSZP werde sich nämlich keineswegs mit dem Verlust ihrer Machtposition abfinden. Die Rede von Gyurcsány glich freilich nur auf den ersten Blick derjenigen von Orbán. Der ehemalige Regierungschef schoss sich vor allem auf zwei Elemente der Orbán-Rede ein: Einerseits auf die Behauptung, dass sich Fidesz verteidigt, andererseits auf die Suggestion, dass die Wahlen bereits gelaufen sind. Warum soll der Ex-Premier die Diagnose des Oppositionschefs gutheißen? Vor allem dann, wenn Orbán die Linke bereits in die Kategorie »Ferner liefen« reihen will. Die Behauptung Orbáns, der Fidesz verteidige sich nur, begegnet Gyurcsány mit dem Verweis darauf, dass der Fidesz wie ein Raubtier angreife. Dem Anschein nach hat der Fidesz aber gerade in den vergangenen Monaten darauf geachtet, nicht aggressiv oder angriffslustig zu erscheinen. Im Hinblick auf den Fidesz malt Gyurcsány das Bild einer Partei, in der antisemitische und fremdenfeindliche Tendenzen zu sehen sind, und die mithin eine Bedrohung für die Demokratie darstellt. Zweitens: Der Aufruf der MSZP »Wacht auf, Demokraten« ist nur zu verständlich. Ziel der MSZP ist es, den von Orbán auf die Zeit nach den Wahlen gelenkten Diskurs wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen und die resignierten MSZP- Wähler aufzustacheln. Ob der Fidesz dann damit jedoch aus der Reserve zu lockern ist, ist mehr als fraglich. Seit geraumer Zeit hütet sich die Partei Orbáns davor, den hingeworfenen Fehdehandschuh aufzuheben. Darüber hinaus hat sie sich in den vergangenen Wochen mehrmals von der ultrarechten Partei Jobbik abgegrenzt. Die Selbstkritik von Gyurcsány richtet sich weniger auf die eigene Regierungsleistung, als viel mehr auf die Standortbestimmung in der berüchtigten Rede von Balatonőszöd (2006). Während Gyurcsány damals mit seiner Partei denkbar hart ins Gericht gegangen war, sagte er jetzt, dass die MSZP auf ihre Regierungsleistung seit 2002 stolz sein könne. Ein Widerspruch. Wann war Gyurcsány nun ehrlich. In Balatonöszöd oder jetzt? Der Ex-Premier hat die MSZP verstanden und eingesehen, dass er 2006 einen Fehler begangen hat. Es hat den Anschein, dass die »stolze Linke« nur jenes Sprungbrett ist, von dem er sich wieder nach oben katapultieren will. Die Rechte ist ihm da nur ein willkommenes Feindbild.
WH
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